Wenn das Finanzamt schätzt – Risiken, Rechte, Reaktionen
Inhaltsverzeichnis:
1. Die unterschätzte Macht der Schätzung
2. Rechtliche Grundlagen: Was sagt das Gesetz?
3. Anlässe für Schätzungen: Wann wird es gefährlich?
4. Betroffene Steuerarten: Wo greift die Schätzung?
5. Schätzungsmethoden im Überblick
6. Die rechtlichen Grenzen der Schätzung
7. Die psychologische Wirkung: Wenn der Steuerbescheid Angst macht
8. Schätzung als Druckmittel: Realität oder Mythos?
9. Digitalisierung und maschinelle Prüfverfahren
10. Der Schätzungsbescheid: Aufbau, Begründung, Wirkung
11. Typische Fehler von Steuerpflichtigen – und ihre Folgen
12. Strategien gegen überzogene Schätzungen
13. Praxisfälle: Wenn eine Schätzung ruiniert
14. Selbstschutz: Was man präventiv tun kann
15. Schätzungen sind vermeidbar – mit Wissen und Struktur
1. Die unterschätzte Macht der Schätzung
Steuerliche Schätzungen sind nicht nur ein technisches Verfahren der Finanzverwaltung – sie sind ein massives Risiko für Unternehmen und Privatpersonen. Denn wenn Unterlagen fehlen, Fristen versäumt oder Aufzeichnungspflichten nicht erfüllt werden, kann das Finanzamt die Steuerlast eigenständig festsetzen. Dabei entstehen nicht selten Forderungen in existenzbedrohender Höhe. Die Folge: Zahlungsschwierigkeiten, Kontopfändungen, Verlust der Kreditwürdigkeit – bis hin zur Aufgabe des Unternehmens. Wer das unterschätzt, riskiert nicht nur Geld, sondern auch Reputation und Zukunftssicherheit.
Die steuerliche Schätzung nach § 162 Abgabenordnung (AO) ist kein Ausnahmefall, sondern gelebte Praxis. Sie kommt immer dann zum Einsatz, wenn das Finanzamt die tatsächlichen Besteuerungsgrundlagen nicht verlässlich ermitteln kann. Dies kann aufgrund unvollständiger Buchführung, nicht eingereichter Steuererklärungen oder widersprüchlicher Angaben geschehen. In solchen Fällen greift die Finanzbehörde zu einem Instrument mit weitreichenden Folgen: Sie schätzt die Grundlage für die Steuerfestsetzung – oft zum Nachteil der steuerpflichtigen Person.
Dabei ist die Schätzung nicht willkürlich, sondern gesetzlich geregelt. Sie soll ermöglichen, dass die Besteuerung auch dann erfolgen kann, wenn die Mitwirkungspflichten verletzt wurden. Dennoch ist sie ein machtvolles Werkzeug. Denn sie ersetzt nicht nur die ursprüngliche Erklärung, sondern kann auch hohe Steuernachforderungen, Verspätungszuschläge und Säumniszinsen nach sich ziehen. Im schlimmsten Fall folgt die Vollstreckung, obwohl der geschätzte Betrag realitätsfern ist.
Ziel dieses Textes ist es daher, ein tiefes Verständnis für die Funktionsweise, die Risiken und die rechtlichen Spielräume rund um steuerliche Schätzungen zu vermitteln. Leser:innen sollen erkennen, wann eine Schätzung droht, wie sie abläuft, welche Folgen sie haben kann – und vor allem: wie man sie vermeiden oder abwehren kann.
Besonders in Zeiten fortschreitender Digitalisierung und automatisierter Prüfungssysteme sind präzise Buchführung, digitale Ordnung und professionelle Beratung wichtiger denn je. Denn schon kleine Fehler, formale Mängel oder verspätete Einreichungen können maschinell als „auffällig“ markiert werden – und den Weg zur Schätzung bereiten.
Der Text richtet sich an Unternehmer:innen, Selbstständige, Vermieter:innen und steuerlich Interessierte, die frühzeitig Klarheit gewinnen und eigene Risiken einschätzen wollen. Er basiert auf aktueller Gesetzeslage, Erfahrungswerten aus der Steuerberatung und gerichtlicher Praxis. Zahlreiche Beispiele und Handlungsempfehlungen zeigen auf, wie Steuerpflichtige sich schützen – und welche Rolle ein:e erfahrene:r Steuerberater:in dabei spielen kann.
Wer die Spielregeln kennt, kann mit dem Finanzamt auf Augenhöhe kommunizieren. Und wer Respekt vor der Schätzung entwickelt, aber nicht in Angst verfällt, kann durch vorausschauendes Handeln hohe Belastungen vermeiden.
2. Rechtliche Grundlagen: Was sagt das Gesetz?
Die steuerliche Schätzung ist kein willkürliches Instrument, sondern ein gesetzlich normiertes Verfahren. Die zentrale Rechtsgrundlage bildet § 162 der Abgabenordnung (AO). Dieser regelt, dass die Finanzbehörde die Besteuerungsgrundlagen schätzen darf, wenn sie diese nicht ermitteln kann. Die Gründe hierfür sind klar definiert: Wenn Steuerpflichtige keine ausreichenden Erklärungen abgeben, die Buchführung nicht ordnungsgemäß ist oder Mitwirkungspflichten verletzt werden, darf das Finanzamt schätzen – und muss es in vielen Fällen sogar.
§ 162 AO unterscheidet drei wesentliche Schätzungsanlässe:
1. Wenn keine Steuererklärung abgegeben wird,
2. wenn die eingereichten Unterlagen unbrauchbar oder widersprüchlich sind,
3. wenn die Mitwirkungspflicht nicht oder nur unzureichend erfüllt wurde.
Das Gesetz verlangt ausdrücklich, dass die Schätzung „nach pflichtgemäßem Ermessen“ zu erfolgen hat. Das bedeutet: Die Finanzbehörde muss sich an objektiven Maßstäben orientieren, wirtschaftlich nachvollziehbare Methoden anwenden und jede Schätzung angemessen begründen. Eine bloß pauschale oder spekulative Ermittlung wäre rechtswidrig.
Die Gerichte – allen voran der Bundesfinanzhof – haben dieses Prinzip in zahlreichen Urteilen konkretisiert. So gilt zum Beispiel, dass die Schätzung nicht „ins Blaue hinein“ erfolgen darf. Vielmehr müssen branchenspezifische Richtwerte, Erfahrungswerte aus der Vergangenheit oder Vergleichsbetriebe als Orientierung dienen. Auch externe Datenquellen wie die Richtsatzsammlung des Bundesfinanzministeriums (BMF) können herangezogen werden.
Besonders wichtig ist das sogenannte Übermaßverbot: Eine Schätzung darf nicht unangemessen hoch ausfallen. Bestehen mehrere plausible Möglichkeiten, muss das Finanzamt die wirtschaftlich realistischste Variante wählen. Bei offensichtlicher Überhöhung – etwa wenn der geschätzte Gewinn das Doppelte des Vorjahres ausmacht, ohne dass es hierfür Belege gibt – liegt ein Ermessensfehler vor. In solchen Fällen kann der Steuerbescheid durch Einspruch oder Klage angegriffen werden.
Die Behörde ist zudem verpflichtet, die Schätzungsmethode und ihre Herleitung im Bescheid offenzulegen (§ 121 AO). Die steuerpflichtige Person muss nachvollziehen können, wie das Finanzamt zu seinem Ergebnis gelangt ist. Nur so kann effektiv Rechtsmittel eingelegt werden. Fehlt eine schlüssige Begründung, ist der Bescheid formell rechtswidrig – selbst wenn das Ergebnis zufällig korrekt wäre.
In der Praxis nutzen Finanzämter oft eine Kombination verschiedener Methoden: Zeitreihenvergleiche, Rückwärtskalkulationen, Geldverkehrs- oder Vermögenszuwachsrechnungen. Welche Methode im Einzelfall angemessen ist, hängt von der Art des Betriebs, dem Umfang der Unterlagen und den Auffälligkeiten in der Buchführung ab.
Fazit: Die rechtlichen Grundlagen für eine Schätzung sind klar – und sie setzen der Finanzverwaltung auch Grenzen. Wer seine Pflichten verletzt, muss mit einer Schätzung rechnen. Aber wer die Regeln kennt, kann sich gezielt dagegen wehren – und überhöhte Festsetzungen erfolgreich angreifen.
3. Anlässe für Schätzungen: Wann wird es gefährlich?
Steuerliche Schätzungen werden nicht aus Willkür vorgenommen – sie entstehen aus konkreten Versäumnissen oder Auffälligkeiten. Das bedeutet: Wer seine steuerlichen Pflichten erfüllt, braucht keine Schätzung zu fürchten. Doch in der Praxis kommt es häufiger zu Schätzungen, als viele annehmen. Dabei reichen schon vermeintlich kleine Fehler aus, um das Vertrauen der Finanzverwaltung zu erschüttern – mit teils drastischen Folgen.
Ein klassischer Anlass ist die Nichtabgabe von Steuererklärungen. Wird die Abgabefrist versäumt, reagiert das Finanzamt in der Regel mit Erinnerungsschreiben und Mahnungen. Bleibt die Erklärung dennoch aus, erfolgt eine sogenannte Zwangsschätzung. Dabei greifen die Finanzämter häufig auf Vorjahreswerte, Branchendurchschnitte oder grobe Erfahrungswerte zurück – meist mit einem Sicherheitszuschlag. Diese Vorgehensweise soll nicht bestrafen, wirkt aber faktisch wie eine Sanktion, da sie oft deutlich zu hohe Beträge festsetzt.
Ein weiterer häufiger Anlass ist eine mangelhafte oder formell nicht ordnungsgemäße Buchführung. Wer seine Aufzeichnungen nicht zeitnah, vollständig und nachvollziehbar führt, liefert dem Finanzamt einen Anlass zur Schätzung. Besonders problematisch: Selbst kleinere formelle Fehler – etwa fehlende Tagesendsummen, lückenhafte Kassenberichte oder nachträglich erstellte Belege – können ausreichen, um die gesamte Buchführung zu verwerfen. In der Folge wird der Gewinn oder Umsatz geschätzt – mit teils erheblichen Zuschätzungen.
Auch Widersprüche innerhalb der eingereichten Unterlagen oder im Vergleich zu Kontrollmaterial anderer Stellen können eine Schätzung auslösen. Typische Fälle sind:
· Abweichungen zwischen Umsatzsteuervoranmeldung und Gewinnermittlung,
· unplausible Wareneinsatzquoten,
· Differenzen zu Daten aus Betriebsprüfungen bei Geschäftspartner:innen,
· Hinweise aus anonymen Anzeigen oder Bankdatenabgleichen.
Seit Einführung der Kassennachschau (§ 146b AO) genügt auch ein unangekündigter Besuch der Finanzverwaltung, um erhebliche Mängel festzustellen. Wird z. B. bei einem bargeldintensiven Betrieb kein TSE-konformes Kassensystem verwendet oder ergeben sich Unstimmigkeiten im Kassenjournal, kann sofort geschätzt werden – sogar rückwirkend für mehrere Jahre.
Gefährlich sind Schätzungsanlässe auch deshalb, weil sie psychologisch überraschen. Viele Steuerpflichtige glauben, ihre Buchführung sei „ausreichend“ – bis sie von der Betriebsprüfung oder per Bescheid eines Besseren belehrt werden. In solchen Situationen hilft nur professionelle Aufarbeitung: schnelle Nachreichung von Unterlagen, strukturierte Kommunikation mit dem Finanzamt und – bei überzogener Schätzung – gezielte Gegenschätzung.
Fazit: Eine Schätzung kommt oft schneller als erwartet – und nicht nur bei grobem Fehlverhalten. Wer Ordnung vernachlässigt, Erklärungen zu spät abgibt oder Auffälligkeiten nicht klärt, läuft Gefahr, in die Schätzungsfalle zu geraten. Umso wichtiger ist es, die typischen Anlässe zu kennen – und ihnen systematisch vorzubeugen.
4. Betroffene Steuerarten: Wo greift die Schätzung?
Steuerschätzungen sind nicht auf eine bestimmte Steuerart beschränkt. Sie können bei nahezu allen Steuerarten erfolgen – immer dann, wenn die Besteuerungsgrundlagen nicht zuverlässig ermittelt werden können. Besonders häufig betroffen sind:
Einkommensteuer: etwa bei Selbstständigen ohne ordnungsgemäße Einnahmen-/Ausgabenaufzeichnung oder bei Vermieter:innen mit fehlenden Belegen.
Umsatzsteuer: vor allem bei bargeldintensiven Betrieben mit mangelhafter Kassenführung oder ohne TSE.
Gewerbesteuer: wenn der Gewinn geschätzt werden muss, wirkt sich dies direkt auf die Gewerbesteuer aus.
Körperschaftsteuer: bei fehlenden Jahresabschlüssen oder unklaren Bilanzen von Kapitalgesellschaften.
Auch Lohnsteuer, Kapitalertragsteuer oder Verbrauchsteuern können geschätzt werden, etwa bei nicht geführten Lohnkonten oder fehlenden Mengennachweisen.
Fazit: Die Schätzungsbefugnis ist breit angelegt – und kann alle treffen, die steuerlich unvollständig oder unklar auftreten. Gerade deshalb lohnt sich die professionelle Vorbereitung für jede Steuerart.
5. Schätzungsmethoden im Überblick
Wenn das Finanzamt schätzt, dann geschieht das nicht willkürlich, sondern nach anerkannten Methoden. Diese Verfahren haben sich aus Rechtsprechung, Verwaltungspraxis und betriebswirtschaftlicher Logik heraus entwickelt – und sie unterliegen gesetzlichen Vorgaben. Dennoch bleibt jede Schätzung ein Annäherungsversuch. Je nachdem, wie gut oder lückenhaft die Ausgangsdaten sind, fällt die Schätzung genauer oder unsicherer aus.
Typische Schätzungsmethoden sind:
· Richtsatzschätzung: Hierbei werden branchenspezifische Durchschnittswerte aus der Richtsatzsammlung des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) angewendet. Sie ist besonders verbreitet bei kleinen Betrieben ohne oder mit mangelhafter Buchführung, etwa in der Gastronomie, im Handwerk oder im Einzelhandel.
· Rückwärtskalkulation: Vor allem in bargeldintensiven Betrieben gebräuchlich. Dabei wird anhand des Wareneinsatzes auf den mutmaßlichen Umsatz geschlossen. Beispiel: Wenn 10.000 Euro für Getränkeeinkauf aufgewendet wurden und der branchenübliche Rohgewinnaufschlag 300 % beträgt, wird ein Umsatz von 30.000 Euro unterstellt.
· Zeitreihenvergleich: Hierbei vergleicht die Finanzverwaltung mehrere Jahre. Auffällige Schwankungen ohne nachvollziehbare Gründe gelten als Indiz für Unrichtigkeit. Wird z. B. in drei Jahren jeweils 100.000 Euro Umsatz erklärt und im vierten nur 50.000 Euro, wird die Differenz oft geschätzt.
· Geldverkehrsrechnung: Bei dieser Methode werden Einnahmen und Ausgaben (privat und betrieblich) gegenübergestellt. Stimmen sie nicht, wird unterstellt, dass Einnahmen fehlen. Besonders verbreitet bei Einzelunternehmer:innen, die private und betriebliche Konten vermengen.
· Vermögenszuwachsrechnung: Der Zuwachs im Vermögen wird mit den erklärten Einkünften verglichen. Besteht eine Lücke, wird auf nicht erklärte Einnahmen geschlossen. Diese Methode ist häufig bei wohlhabenden Privatpersonen oder Betriebsinhaber:innen anzutreffen.
· Innerer Betriebsvergleich: Werden mehrere Filialen oder Geschäftsbereiche geführt, können diese miteinander verglichen werden. Abweichungen ohne nachvollziehbare Begründung führen zu Zuschätzungen in einzelnen Betriebszweigen.
· Chi-Quadrat-Test: Eine statistische Methode zur Erkennung nicht-zufälliger Strukturen in Zahlenfolgen – z. B. bei Kassenbewegungen. Rundungsauffälligkeiten oder gleichförmige Endziffern werden hier als Indiz für Manipulationen gewertet.
In vielen Fällen kombiniert das Finanzamt mehrere dieser Methoden – etwa Richtsatz plus Zeitreihe plus Rückwärtskalkulation. Das erhöht die Belastbarkeit der Schätzung und erschwert die Gegenwehr.
Doch jede Schätzung muss nachvollziehbar und verhältnismäßig sein. Sie darf nicht dazu dienen, Steuerpflichtige „zu bestrafen“, sondern soll die tatsächlichen Verhältnisse so gut wie möglich abbilden. Je plausibler die Methodenkombination, desto rechtssicherer der Bescheid – und umgekehrt.
Fazit: Wer die Methoden der Finanzverwaltung kennt, kann gezielt prüfen, ob die Schätzung stimmig ist – und falls nicht, mit einer fundierten Gegenschätzung antworten. Dabei kann eine professionelle steuerliche Begleitung entscheidend sein.
6. Die rechtlichen Grenzen der Schätzung
Auch wenn das Finanzamt bei der Schätzung einen weiten Spielraum hat – dieser ist nicht grenzenlos. Die Schätzung darf nicht willkürlich, überzogen oder sachlich unbegründet sein. Vielmehr gelten klare rechtliche Vorgaben, die eine faire und verhältnismäßige Schätzung sicherstellen sollen. Zentral ist dabei das sogenannte Übermaßverbot: Die Schätzung muss wirtschaftlich nachvollziehbar und realitätsnah sein – nicht spekulativ oder strafend.
Die rechtliche Grundlage dafür bildet § 162 Abs. 1 Satz 2 AO. Dort heißt es, dass die Schätzung „nach pflichtgemäßem Ermessen“ zu erfolgen hat. Das bedeutet: Die Behörde muss eine sachgerechte, nachvollziehbare und methodisch stimmige Lösung wählen – keine beliebige. Wird das überschritten, liegt ein Ermessensfehler vor – der Bescheid kann dann angefochten und im Zweifel aufgehoben werden.
Ein weiterer Grundsatz lautet: Die Schätzung darf nur insoweit erfolgen, wie es tatsächlich erforderlich ist. Wenn beispielsweise Einnahmen nicht belegbar sind, aber alle Ausgaben ordnungsgemäß dokumentiert wurden, dürfen nicht pauschal beide Seiten geschätzt werden. Auch Sicherheitszuschläge müssen sachlich begründet sein – etwa durch Indizien für nicht erklärte Einnahmen oder Auffälligkeiten in der Buchführung.
Die Schätzung muss zudem verhältnismäßig sein: Das Verhältnis zwischen dem Schätzungsanlass und der Höhe der Zuschätzung muss stimmen. Beispiel: Wenn eine Betriebsausgabe von 1.000 Euro unklar bleibt, darf daraus keine 20.000-Euro-Gewinnerhöhung resultieren. Auch das Bundesfinanzgericht hat in ständiger Rechtsprechung klargestellt, dass Schätzungen auf nachvollziehbaren Tatsachen beruhen und sorgfältig abgeleitet werden müssen (vgl. BFH, Urteil vom 25.06.2019 – X R 8/17).
Wichtig ist außerdem die Begründungspflicht: Das Finanzamt muss im Bescheid genau angeben, auf welcher Grundlage es geschätzt hat. Fehlt diese Begründung oder bleibt sie allgemein („es wurde geschätzt“), ist der Bescheid formell rechtswidrig – unabhängig vom Schätzungsergebnis.
In der Praxis zeigt sich: Viele überhöhte oder fehlerhafte Schätzungen beruhen nicht auf böser Absicht, sondern auf Zeitdruck, Datenmangel oder veralteten Erfahrungswerten. Dennoch haben Steuerpflichtige das Recht, sich dagegen zu wehren – z. B. mit einer fundierten Gegenschätzung oder einem Einspruch.
Fazit: Wer die rechtlichen Grenzen der Schätzung kennt, erkennt auch überzogene Festsetzungen. Mit fundiertem Wissen, vollständiger Dokumentation und notfalls professioneller Unterstützung lassen sich solche Fälle oft korrigieren – bevor daraus eine existenzielle Belastung wird.
7. Die psychologische Wirkung: Wenn der Steuerbescheid Angst macht
Ein Schätzungsbescheid ist nicht nur eine Zahl auf Papier – er ist für viele Betroffene ein Schockmoment. Gerade kleine Unternehmen, Selbstständige und Privatpersonen erleben die Nachricht, dass das Finanzamt „geschätzt“ hat, als emotionale Zäsur. Unsicherheit, Scham, Angst und Überforderung sind häufig die Folge.
Der psychologische Druck entsteht auf mehreren Ebenen: Zum einen gibt es den inhaltlichen Zweifel („Wie kommt das Finanzamt auf diese Summe?“), zum anderen die existenzielle Sorge („Wie soll ich das bezahlen?“). Hinzu kommen oft Schuldgefühle – insbesondere dann, wenn Fristen versäumt, Unterlagen unvollständig oder organisatorische Mängel offensichtlich sind. Das Gefühl, „etwas falsch gemacht zu haben“, mischt sich mit der Angst vor Konsequenzen – bis hin zu Vollstreckung oder Rufschädigung.
Viele Betroffene ziehen sich in solchen Situationen zurück. Steuerliche Probleme gelten in Deutschland als Tabuthema. Kaum jemand spricht offen über Schätzungsbescheide, Zahlungsengpässe oder das Gefühl, mit dem Finanzamt „im Konflikt“ zu stehen. Dabei wäre gerade der offene Umgang und professionelle Rat in dieser Phase besonders wichtig.
Zudem ist die Sprache eines Schätzungsbescheids für Laien oft schwer verständlich. Begriffe wie „Besteuerungsgrundlagen“, „Richtsatzschätzung“ oder „Schätzungsanlass“ wirken technisch und unnahbar. Sie verstärken das Gefühl, einem übermächtigen Apparat ausgeliefert zu sein – ohne Verteidigungsmöglichkeit.
Doch genau das Gegenteil ist der Fall: Wer informiert ist, kann handeln. Wer rechtzeitig reagiert – etwa mit einem Einspruch, einer Gegenschätzung oder einer Nachreichung fehlender Unterlagen – kann nicht nur die Steuerlast senken, sondern auch das eigene Sicherheitsgefühl zurückgewinnen.
Gerade bei hohen Schätzungen oder Unsicherheit über den nächsten Schritt ist es sinnvoll, eine:n erfahrene:n Steuerberater:in einzubeziehen. Der oder die kann helfen, die Situation sachlich einzuordnen, Optionen zu bewerten und im besten Fall eine einvernehmliche Lösung mit der Finanzverwaltung zu finden.
Fazit: Die psychologische Belastung durch eine Schätzung ist real – aber sie ist überwindbar. Wissen, Transparenz und professionelle Begleitung machen den Unterschied. Wer versteht, dass er nicht allein ist und sich Unterstützung holt, bleibt nicht Opfer der Umstände, sondern wird wieder handlungsfähig.
8. Schätzung als Druckmittel – Realität oder Mythos?
Immer wieder berichten Mandant:innen, dass sie sich durch eine Schätzung unter Druck gesetzt fühlen – sei es durch die Höhe des geschätzten Betrags, den plötzlichen Bescheid oder die zeitliche Dringlichkeit. Es stellt sich die Frage: Wird die Schätzung bewusst eingesetzt, um Steuerpflichtige zur Kooperation oder Zahlung zu bewegen? Oder handelt es sich dabei um einen Mythos, der sich aus subjektiven Erfahrungen speist?
Zunächst gilt: Die Schätzung ist ein legitimes Mittel der Finanzverwaltung – aber kein Sanktionsinstrument. Sie darf nicht als Strafmaßnahme verwendet werden. Die rechtlichen Grundlagen sehen sie ausschließlich als Ersatzhandlung vor, wenn die Mitwirkungspflicht verletzt wurde oder keine ausreichenden Unterlagen vorliegen. Gleichwohl entfaltet die Schätzung in der Praxis oft eine faktische Druckwirkung.
Ein Beispiel: Eine steuerpflichtige Person hat ihre Erklärung wiederholt nicht abgegeben. Nach Ablauf der Frist erfolgt eine Schätzung – auf Basis von Vorjahreswerten plus Sicherheitszuschlag. Der resultierende Steuerbetrag übersteigt das tatsächliche Einkommen deutlich. Die Folge: massive Liquiditätsprobleme und eine angespannte Beziehung zur Behörde. Zwar rechtlich zulässig, wirkt die Schätzung dennoch wie eine Bestrafung.
In manchen Fällen kann die Schätzung auch als taktisches Mittel wahrgenommen werden. Etwa wenn das Finanzamt trotz unvollständiger Unterlagen bereits über grobe Einnahmenschätzungen verfügt – und mit einem entsprechend hohen Betrag Druck erzeugt, um Unterlagen schnell nachzureichen. Formal ist dies durch § 162 AO gedeckt. In der Wirkung jedoch kann es für die Betroffenen demotivierend oder einschüchternd sein.
Gerade bei kleinen Betrieben, die keine steuerliche Vertretung haben, führt die Druckwirkung oft zu überhasteten Zahlungen, unüberlegten Zugeständnissen oder dem Verzicht auf rechtliche Schritte. Das ist gefährlich – denn Schätzungen sind keine unumstößlichen Urteile, sondern Verwaltungsakte mit vollem Einspruchsrecht.
Fazit: Auch wenn die Schätzung rechtlich kein Druckmittel ist, wirkt sie psychologisch oft so. Wer sich in einer solchen Lage wiederfindet, sollte nicht vorschnell handeln, sondern professionellen Rat einholen. Denn nur wer seine Rechte kennt und strukturiert vorgeht, kann sich der Schätzung mit Erfolg entgegenstellen.
9. Digitalisierung und maschinelle Prüfverfahren
Die Digitalisierung hat das Steuerrecht grundlegend verändert – und mit ihm die Schätzpraxis der Finanzverwaltung. Was früher in Papierordnern gesucht wurde, wird heute mit wenigen Klicks automatisiert geprüft. Für Steuerpflichtige bedeutet das einerseits mehr Transparenz, andererseits aber auch ein gestiegenes Risiko, dass selbst kleine Fehler auffallen und zu Schätzungen führen.
Ein zentrales Instrument ist die sogenannte digitale Außenprüfung. Grundlage hierfür sind die GoBD (Grundsätze zur ordnungsmäßigen Führung und Aufbewahrung von Büchern, Aufzeichnungen und Unterlagen in elektronischer Form sowie zum Datenzugriff). Im Rahmen von Betriebsprüfungen fordern die Prüfer:innen regelmäßig einen sogenannten GoBD-Export – das ist ein vollständiger Datensatz, aus dem alle Geschäftsvorfälle elektronisch auswertbar sind. Mithilfe von Software wie IDEA analysieren sie Muster, Ausreißer oder Unstimmigkeiten – zum Beispiel ungewöhnliche Wareneinsatzquoten, runde Zahlenfolgen oder doppelte Buchungen.
Ein weiteres mächtiges Werkzeug ist die Kassen-Nachschau nach § 146b AO. Seit 2018 dürfen Prüfer:innen unangekündigt Betriebe betreten, die Bargeschäfte tätigen. Vor Ort werden Kassendaten ausgelesen, auf TSE-Konformität geprüft und mit Tagesabschlüssen abgeglichen. Werden dabei Lücken, Manipulationsverdacht oder fehlende TSE-Sicherungen festgestellt, kann sofort eine Hinzuschätzung erfolgen – auch rückwirkend.
Auch der innerbehördliche Datenaustausch wurde erheblich ausgeweitet. Finanzämter greifen heute auf Kontodatenabfragen (§ 93 Abs. 7 AO), Transparenzregister-Einträge, Sozialversicherungsmeldungen und ausländische Finanzdaten zu. Wer meint, durch fehlende Belege „durchzurutschen“, irrt: Die Finanzverwaltung hat über Schnittstellen und Kontrollmitteilungen oft bessere Informationen, als Steuerpflichtige vermuten.
Gleichzeitig steigt die Erwartung an digitale Ordnung. Wer Belege nicht digital archiviert, Buchungen nicht zeitnah dokumentiert oder Systemwechsel nicht sauber überführt, riskiert, dass das Gesamtbild „unplausibel“ wirkt. In der Praxis genügt eine solche Unplausibilität häufig für eine (teilweise) Schätzung.
Doch Digitalisierung bietet auch Vorteile: Wer auf GoBD-konforme Softwarelösungen setzt, automatische Belegerfassung nutzt, Kassen systematisch prüft und Datenzugriffe vorbereitet, reduziert das Risiko erheblich. Moderne Systeme ermöglichen es sogar, vorab zu simulieren, wie eine Prüfung bestimmte Werte bewerten würde.
Fazit: Digitalisierung ist kein reines Kontrollinstrument – sie ist auch ein Schutzfaktor, wenn man sie professionell einsetzt. Wer digitale Ordnung schafft und prüfungsfähig ist, hat nichts zu befürchten. Wer aber glaubt, die Technik nicht ernst nehmen zu müssen, läuft Gefahr, automatisiert geschätzt zu werden – schneller, als ihm lieb ist.
10. Der Schätzungsbescheid: Aufbau, Begründung, Wirkung
Ein Schätzungsbescheid ist für viele Betroffene der erste greifbare Beleg dafür, dass das Finanzamt Zweifel an ihren Angaben hat – oder überhaupt keine mehr erwartet. In der Regel kommt der Bescheid unerwartet, wirkt komplex und ruft starke Reaktionen hervor: von Schock bis Ratlosigkeit. Umso wichtiger ist es, seinen Aufbau und seine Wirkung genau zu kennen.
Der Schätzungsbescheid ist formal gesehen ein ganz normaler Steuerbescheid – mit einer entscheidenden Besonderheit: Die Besteuerungsgrundlagen wurden nicht aus den eingereichten Erklärungen, sondern durch Schätzung ermittelt. Das Finanzamt ist dabei verpflichtet, im Bescheid deutlich auf den Schätzungsgrund hinzuweisen. Typische Formulierungen lauten:
„Da die Besteuerungsgrundlagen nicht ermittelt werden konnten, wurden sie gemäß § 162 AO geschätzt.“
Der Aufbau eines Schätzungsbescheids umfasst typischerweise:
Art der Steuer und der betroffene Zeitraum (z. B. Einkommensteuer 2023),
die geschätzten Besteuerungsgrundlagen (z. B. Einnahmen, Gewinne, Umsätze),
die angewendete Schätzmethode oder deren Begründung,
die errechnete Steuer,
mögliche Zuschläge (z. B. Verspätungszuschlag, Nachzahlungszinsen),
die Rechtsbehelfsbelehrung (Frist und Form für Einspruch).
Beispiel für die Darstellung im Bescheid:
Einkommensteuerbescheid 2023
Betroffene Person: Max Beispielmann
Steuernummer: 123/456/7890
Besteuerungsgrundlagen:
Einnahmen aus selbstständiger Tätigkeit: geschätzt 72.000 €
Betriebsausgaben: pauschal 30 % abgezogen
Zu versteuern: 50.400 €
Einkommensteuer: 11.230 €
Zuzüglich Solidaritätszuschlag: 617,65 €
Abzüglich Vorauszahlungen: 0 €
Zahlbetrag: 11.847,65 €
Begründung: Da die Einkommensteuererklärung trotz mehrfacher Erinnerung nicht abgegeben wurde, wurden die Besteuerungsgrundlagen gemäß § 162 AO geschätzt. Die Schätzung orientiert sich an den Verhältnissen der Vorjahre zuzüglich Sicherheitszuschlag.
Für die betroffene Person bedeutet dieser Bescheid eine klare Botschaft: Ohne Einlenken, Einspruch oder ergänzende Mitwirkung wird dieser Steuerbetrag fällig – inklusive aller Nebenwirkungen wie Zinsen und potenzieller Vollstreckung.
Wirkung:
Ein Schätzungsbescheid ist voll wirksam und vollstreckbar – auch wenn er objektiv falsch sein sollte. Wer nicht innerhalb eines Monats Einspruch einlegt, akzeptiert den Bescheid automatisch. Das macht es umso wichtiger, den Bescheid genau zu prüfen und professionell zu reagieren.
Fazit:
Der Schätzungsbescheid ist keine Nebensache – er ist das zentrale Steuerdokument in einem Schätzungsverfahren. Wer ihn versteht, kann reagieren. Wer ihn ignoriert, riskiert massive finanzielle und rechtliche Konsequenzen.
11. Typische Fehler von Steuerpflichtigen – und ihre Folgen
Die meisten steuerlichen Schätzungen haben keine betrügerischen Ursachen – sie sind die Folge von Unachtsamkeit, organisatorischen Schwächen oder mangelndem Wissen. Wer seine Pflichten kennt und typische Fehler vermeidet, kann in der Regel verhindern, dass das Finanzamt zur Schätzung greifen muss.
Zu den häufigsten Fehlern zählen:
1. Unvollständige oder fehlerhafte Kassenführung:
In bargeldintensiven Branchen wie Gastronomie, Friseurhandwerk oder Einzelhandel ist die korrekte Kassenführung besonders wichtig. Wird kein TSE-konformes Kassensystem verwendet oder fehlen Tagesendsummen und Journaldaten, gilt die Kasse als nicht ordnungsgemäß – selbst wenn die Umsätze realistisch erscheinen. In der Folge wird geschätzt, häufig mit Zuschlägen auf den erklärten Umsatz.
2. Vermischung von privaten und betrieblichen Ausgaben:
Viele Selbstständige nutzen ein gemeinsames Konto für alle Transaktionen – ohne saubere Trennung. Damit wird die Nachvollziehbarkeit betrieblicher Ausgaben erschwert. Ohne klare Belege können Ausgaben gestrichen oder als verdeckte Entnahmen gewertet werden – mit entsprechenden Zuschätzungen.
3. Fehlende oder unvollständige Belegsammlung:
Betriebsausgaben müssen nachvollziehbar dokumentiert sein. Fehlen Rechnungen, Verträge oder Quittungen, können die Ausgaben nicht anerkannt werden. Gerade bei Bewirtungskosten, Reisekosten oder Investitionen führt dies regelmäßig zu Beanstandungen – und pauschalen Schätzungen.
4. Verspätete Abgabe von Steuererklärungen:
Wer wiederholt zu spät oder gar nicht abgibt, provoziert faktisch eine Schätzung. Das Finanzamt wird tätig, sobald Fristen verstrichen sind – und verwendet dann Erfahrungswerte oder Vorjahresdaten. Ohne Einblick in aktuelle Entwicklungen (z. B. Umsatzeinbrüche, Investitionen) wird dies oft zum Nachteil der betroffenen Person.
5. Branchenspezifische Unkenntnis:
Bestimmte Berufsgruppen – z. B. Fahrlehrer:innen, Heilberufe, Baugewerbe – unterliegen besonderen Nachweispflichten oder Aufzeichnungserfordernissen. Wer diese nicht kennt oder nicht erfüllt, erzeugt Unplausibilitäten, die schnell zur Hinzuschätzung führen.
6. Keine interne Kontrolle:
Fehlende betriebswirtschaftliche Auswertungen (BWA), keine Kassensturzproben, kein Vergleich von Wareneinsatz und Erlösen – all das sind Schwächen, die das Risiko einer Schätzung erhöhen. Auch falsche Buchungen, doppelte Erfassungen oder Rundungsfehler erzeugen ein fragwürdiges Gesamtbild.
Folgen dieser Fehler:
Die Konsequenzen einer Schätzung sind oft gravierend: höhere Steuerlast, zusätzliche Zinsen, Verspätungs- oder Säumniszuschläge, und im schlimmsten Fall: Vollstreckungsmaßnahmen. Zudem leidet das Vertrauensverhältnis zum Finanzamt – was zukünftige Prüfungen wahrscheinlicher macht.
Fazit:
Wer typische Fehler kennt und vermeidet, reduziert sein Schätzungsrisiko deutlich. Ordnung, klare Abläufe und gegebenenfalls eine laufende Begleitung durch Steuerberatung sind die besten Mittel, um unangenehme Überraschungen zu vermeiden.
12. Strategien gegen überzogene Schätzungen
Eine Schätzung ist kein Urteil – sie ist ein Verwaltungsakt. Und wie jeder Verwaltungsakt ist sie angreifbar. Wer mit einer Schätzung nicht einverstanden ist, hat mehrere Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren. Entscheidend ist: frühzeitig, strukturiert und mit fundierten Argumenten zu handeln.
1. Einspruch einlegen:
Gegen einen Schätzungsbescheid kann innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe Einspruch eingelegt werden (§ 355 AO). Der Einspruch sollte möglichst begründet sein – entweder mit einer Gegenschätzung, zusätzlichen Unterlagen oder rechtlichen Argumenten. Auch wenn nicht alle Informationen sofort vorliegen, kann der Einspruch fristwahrend erfolgen („Begründung folgt“).
2. Gegenschätzung vorlegen:
Eine der wirksamsten Maßnahmen ist die eigene Gegenrechnung. Hierbei werden Einnahmen, Ausgaben oder Umsätze auf nachvollziehbare Weise dargestellt – etwa auf Basis nachgereichter Belege, bankinterner Zahlen oder interner Auswertungen (BWA, Wareneinsatzquote). Die Gegenschätzung sollte methodisch sauber und realistisch sein – idealerweise mit Unterstützung durch eine:n Steuerberater:in.
3. Unterlagen nachreichen:
Oft beruhen Schätzungen auf fehlender Mitwirkung. Wer die entsprechenden Nachweise, Belege oder Aufzeichnungen im Nachgang vollständig und plausibel einreicht, kann die Schätzung korrigieren oder sogar vollständig aufheben lassen. Dabei sollte das Schreiben sachlich, strukturiert und mit Bezug auf die Schätzung formuliert sein.
4. Aussetzung der Vollziehung beantragen:
Um eine Vollstreckung während des Einspruchsverfahrens zu verhindern, kann zusätzlich ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt werden (§ 361 AO). Dieser wird gewährt, wenn „ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit“ der Schätzung bestehen. Ohne diesen Antrag kann das Finanzamt die geschätzten Beträge sofort beitreiben.
5. Verständigung mit dem Finanzamt suchen:
Gerade bei formellen Mängeln, die zu einer Schätzung geführt haben, lohnt sich der direkte Kontakt zur Sachbearbeitung. Oft lässt sich im Gespräch eine einvernehmliche Lösung finden – etwa eine begrenzte Korrektur oder Fristverlängerung für ergänzende Angaben. Voraussetzung ist allerdings: Mitwirkung und Offenheit.
6. Klage vor dem Finanzgericht:
Bleibt der Einspruch erfolglos, steht der Weg zum Finanzgericht offen (§ 40 FGO). Die Klage muss innerhalb eines Monats nach Ablehnung des Einspruchs eingereicht werden. Für komplexere Fälle ist eine anwaltliche oder steuerliche Vertretung ratsam. Wichtig: Das Gericht prüft nicht nur die Höhe der Schätzung, sondern auch die Methodik und Begründung.
Fazit:
Schätzungen sind nicht alternativlos. Wer rechtzeitig reagiert, gezielt vorträgt und ggf. professionellen Rat einholt, kann die Auswirkungen deutlich abmildern – oder ganz vermeiden. Die besten Ergebnisse erzielen Steuerpflichtige, die systematisch vorgehen und sachlich kommunizieren.
13. Praxisfälle: Wenn eine Schätzung ruiniert
Theorie ist hilfreich – aber nichts zeigt die Wucht einer Schätzung so deutlich wie echte Beispiele aus der Praxis. Die folgenden Fälle stammen aus realen Steuerberatungserfahrungen (anonymisiert) und veranschaulichen, wie schnell eine unbedachte Nachlässigkeit zu einem ruinösen Schätzungsbescheid führen kann – und wie wichtig frühzeitige Reaktion und Beratung sind.
Fall 1: Der Gastronom ohne TSE
Ein Restaurantbetreiber hatte über Jahre hinweg seine Umsätze händisch in ein Excel-Sheet eingetragen. Eine technische Sicherheitseinrichtung (TSE) fehlte. Im Rahmen einer unangekündigten Kassen-Nachschau stellte das Finanzamt erhebliche Mängel fest: fehlende Tagesabschlüsse, keine lückenlose Speicherung, auffällige Rundungswerte. Ergebnis: Eine Zuschätzung von 30 % zum erklärten Umsatz der letzten drei Jahre. Die Steuerlast stieg um über 65.000 Euro. Der Betrieb musste zwei Filialen schließen – der Unternehmer kämpft bis heute um seine wirtschaftliche Existenz.
Fall 2: Die verspätete Erklärung einer Selbstständigen
Eine Grafikdesignerin hatte ihre Steuererklärung für zwei Jahre nicht eingereicht. Das Finanzamt schätzte die Einnahmen anhand der Vorjahre – mit Sicherheitszuschlag. Es wurden Gewinne von jeweils 60.000 Euro angenommen, obwohl sie in einem Jahr gar keine Aufträge hatte. Der Schätzungsbescheid betrug über 30.000 Euro. Erst nach langem Einspruchsverfahren und Einreichung sämtlicher Belege konnte die Forderung auf 8.000 Euro reduziert werden – aber Mahngebühren und Zinsen blieben bestehen.
Fall 3: Der Bauunternehmer mit chaotischer Buchführung
Ein kleiner Bauunternehmer führte seine Buchhaltung unregelmäßig und bewahrte Belege ungeordnet in Kartons auf. Bei einer Außenprüfung stellte das Finanzamt fest, dass Einnahmen und Materialkosten nicht zueinander passten. Außerdem fehlten Nachweise für Subunternehmerleistungen. Die Folge: Eine pauschale Zuschätzung zum Gewinn über drei Jahre hinweg. Die Steuernachzahlung betrug 110.000 Euro – plus 18.000 Euro Zinsen und Säumniszuschläge. Die Liquidität war dahin. Nur mit Ratenzahlungsvereinbarung und professioneller Hilfe konnte die Insolvenz abgewendet werden.
Fall 4: Der Onlinehändler mit PayPal-Lücke
Ein Online-Verkäufer deklarierte seine Umsätze aus Amazon korrekt – vergaß jedoch jahrelang, die über PayPal abgewickelten Verkäufe aus dem eigenen Shop anzugeben. Bei einer späteren Prüfung wurden PayPal-Daten angefordert und mit den Umsätzen abgeglichen. Das Ergebnis: Differenzen im fünfstelligen Bereich. Da keine Belege mehr vorlagen, schätzte das Finanzamt pauschal 40 % Zuschlag auf den Gesamtumsatz. Der Unternehmer verlor die Buchführung als „nicht ordnungsgemäß“. Der Betrieb wurde aufgegeben.
Fazit:
Schätzungen wirken nicht nur rechnerisch – sie verändern Existenzen. Wer glaubt, dass eine unvollständige Erklärung oder verspätete Einreichung „schon nicht so schlimm“ sei, spielt mit dem Feuer. Die Beispiele zeigen: Es braucht nur eine kleine Schwachstelle – und der Schaden ist immens. Umso wichtiger ist es, strukturiert zu arbeiten, Belege zu sichern und sich im Zweifel rechtzeitig beraten zu lassen.
14. Selbstschutz: Was man präventiv tun kann
Der wirksamste Schutz vor einer steuerlichen Schätzung besteht darin, gar nicht erst in ihre Nähe zu geraten. Wer seine steuerlichen Pflichten kennt, organisiert und dokumentiert, hat gute Chancen, nie mit einem Schätzungsbescheid konfrontiert zu werden. Der Selbstschutz beginnt dabei nicht mit der Steuererklärung – sondern weit früher: bei der täglichen Organisation der Unterlagen.
1. Ordnungsgemäße Buchführung sicherstellen
Die Buchführung sollte GoBD-konform sein, also nachvollziehbar, vollständig, zeitnah und geordnet. Wer mit einer Software arbeitet, sollte darauf achten, dass diese revisionssichere Protokolle erzeugt und über Schnittstellen zum Steuerberater verfügt. Besonders wichtig: keine nachträglichen Änderungen ohne Dokumentation.
2. Belegorganisation strukturieren
Alle Einnahmen und Ausgaben müssen durch Belege dokumentiert werden – digital oder in Papierform. Quittungen, Rechnungen, Verträge und Zahlungsnachweise sollten zentral archiviert und leicht auffindbar sein. Für Bewirtungskosten, Reisekosten und betrieblich genutzte Fahrzeuge gelten besondere Anforderungen, z. B. Fahrtenbuch oder Bewirtungsnachweis.
3. Fristen im Blick behalten
Versäumte Abgabefristen sind einer der häufigsten Schätzungsanlässe. Eine einfache Kalenderfunktion, Erinnerungen im Steuerkanzleiportal oder ein Jahresplan helfen, keine Fristen zu verpassen. Wer weiß, dass er eine Erklärung nicht rechtzeitig schafft, sollte frühzeitig um Fristverlängerung bitten.
4. Kassensysteme korrekt einsetzen
In bargeldintensiven Betrieben muss das Kassensystem TSE-konform, manipulationssicher und regelmäßig geprüft sein. Kassen-Nachschauen erfolgen ohne Ankündigung. Wer keine täglichen Abschlussberichte erstellt oder Daten nicht lückenlos speichert, riskiert sofort eine Hinzuschätzung.
5. Selbstprüfungen einführen
Regelmäßige Soll-Ist-Vergleiche, betriebswirtschaftliche Auswertungen (BWA) und Kassensturzproben helfen, Abweichungen frühzeitig zu erkennen. So lassen sich Unstimmigkeiten intern klären – bevor das Finanzamt sie entdeckt. Auch ein Abgleich zwischen Bankumsätzen, Buchhaltung und Steuererklärung ist empfehlenswert.
6. Kommunikation suchen
Wer merkt, dass etwas schiefläuft – etwa durch Belegverlust, technische Probleme oder Krankheit – sollte das Finanzamt aktiv informieren. Offene Kommunikation wird in der Praxis positiv gewertet. Wer glaubhaft erklärt, kooperiert und bereit ist nachzubessern, verhindert oft eine Schätzung.
7. Steuerliche Beratung nutzen
Nicht zuletzt gilt: Wer sich regelmäßig beraten lässt, erkennt typische Schwächen früh. Ein:e Steuerberater:in hilft, die Ordnung der Unterlagen zu verbessern, Abläufe zu digitalisieren und Fehler zu vermeiden. Gerade bei Umstellungen (z. B. Wechsel der Software, neue Geschäftsfelder) kann professionelle Begleitung entscheidend sein.
Fazit:
Selbstschutz ist kein Zufall. Wer ihn systematisch betreibt, spart nicht nur Nerven – sondern auch bares Geld. Die Investition in Ordnung und Beratung zahlt sich aus: durch niedriges Schätzungsrisiko, saubere Buchführung und ein gutes Gefühl bei jeder Betriebsprüfung.
15. Schätzungen sind vermeidbar – mit Wissen und Struktur
Steuerliche Schätzungen sind ein warnendes Signal: Sie zeigen auf, wo Ordnung, Klarheit und rechtzeitige Mitwirkung gefehlt haben. Doch sie sind auch eine Chance – für eine Kurskorrektur, für Transparenz und für einen strukturierten Neuanfang. Wer die Folgen erkennt und vorbeugt, schützt sich nicht nur vor finanziellen Einbußen, sondern gewinnt zugleich Sicherheit und Vertrauen – bei der Finanzverwaltung, den Geschäftspartner:innen und sich selbst.
Der vorliegende Text hat gezeigt, wie facettenreich das Thema steuerliche Schätzung ist: von den gesetzlichen Grundlagen über die praktischen Auslöser und Methoden bis hin zu konkreten Strategien der Vermeidung und Verteidigung. Deutlich wurde auch: Es handelt sich nicht um ein rein technisches oder juristisches Thema – sondern um eine reale Bedrohung für finanzielle Stabilität, unternehmerische Existenz und psychische Belastbarkeit.
Gerade deshalb ist es so wichtig, dieses Thema ernst zu nehmen. Wer frühzeitig mit Ordnung, Struktur und Transparenz arbeitet, wer Fristen beachtet, Systeme pflegt und sich beraten lässt, reduziert sein Risiko deutlich – und behält zugleich seine unternehmerische Freiheit.
Wenn Sie aktuell mit steuerlichen Unsicherheiten konfrontiert sind oder prüfen lassen möchten, ob Ihre Abläufe einer Schätzung standhalten würden, dann nehmen Sie mit mir gern Kontakt auf. Als erfahrener Steuerberater unterstütze ich Sie – vertraulich, professionell und lösungsorientiert. Nutzen Sie das Kontaktformular auf dieser Website – ich melde mich umgehend zurück.
Sollten Sie aber auch zu einem anderen Themenbereich irgendwelche Fragen haben, können Sie sich gerne für eine Beratung vertrauensvoll an mich wenden. Nutzen Sie auch hierfür bitte das Kontaktformular auf dieser Website.
Bitte sehen Sie sich auch meine übrigen Beratungsschwerpunkte an.
Quellenverzeichnis:
Bundesfinanzhof (BFH). (2019). Urteil vom 25.06.2019 – X R 8/17. Verfügbar unter: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201910037/
Bundesministerium der Finanzen (BMF). (2019). Schreiben zur Kassensicherungsverordnung vom 28.11.2019. Verfügbar unter: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/BMF_Schreiben/Steuerarten/Umsatzsteuer/2019-11-28-KassenSichV.html
Abgabenordnung (AO). (2023). § 162 AO – Schätzung. Verfügbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/ao_1977/__162.html
Bundesministerium der Finanzen (BMF). (2022). Richtsatzsammlung 2021. Verfügbar unter: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Steuern/Weitere_Steuerthemen/Betriebspruefung/Richtsatzsammlung/richtsatzsammlung-2021.html
Bundeszentralamt für Steuern (BZSt). (2023). GoBD – Anforderungen an die IT-gestützte Buchführung. Verfügbar unter: https://www.bzst.de/DE/Unternehmen/GoBD/gobd_node.html
Finanzgericht Düsseldorf. (2018). Urteil vom 11.04.2018 – 7 K 2802/17 AO. Verfügbar unter: https://www.justiz.nrw.de/nrwe/fgs/duesseldorf/j2021/7_K_2802_17_AO_Urteil_20210414.html
Peters, M. (2021). Die steuerliche Schätzung – Grenzen, Methoden, Risiken. In: Steuerberater-Journal, 19(3), 123–130. Verfügbar unter: https://www.steuerberater-journal.de/archiv/2021/03/schaetzung
Wolffgang, H. (2020). Die Kassen-Nachschau: Rechte, Pflichten, Risiken. In: NWB Betriebswirtschaftliche Beratung, Heft 6/2020. Verfügbar unter: https://datenbank.nwb.de/Dokument/Anzeigen/824321/